W. Wohlers u.a. (Hrsg.): Carl Joseph Anton Mittermaier und der reformierte Strafprozess

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Titel
Carl Joseph Anton Mittermaier und der reformierte Strafprozess.


Herausgeber
Koch, Arnd; Stuckenberg, Carl-Friedrich; Wohlers, Wolfgang
Erschienen
Tübingen 2022: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
VIII, 298 S.
Preis
€ 104,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Mohr, Nußloch

Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867) war einer der produktivsten und vielseitigsten deutschen Rechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Nachdem es nach seinem Tod still geworden war um den in München geborenen und den größten Teil seines Lebens in Heidelberg wirkenden liberalen Rechtsgelehrten und Politiker, den Gustav Radbruch „den international berühmtesten unter allen deutschen Juristen seiner Zeit“ genannt hatte1, sind in den letzten vier Jahrzehnten einige Arbeiten erschienen, die einzelne Aspekte seines Gesamtwerks beleuchten.2

Die Fokussierung des vorliegenden, die Beiträge einer Tagung am 5. und 6. März 2021 vereinenden Sammelbandes auf Mittermaiers Schriften zum reformierten Strafprozess ergibt Sinn, denn bei aller Vielseitigkeit war Mittermaier doch vor allem „Kriminalist“ und für den Strafprozess ein Experte von europäischem Rang.

Michael Hettinger bietet eine Einführung in Mittermaiers strafrechtswissenschaftliches Werk und unternimmt den Versuch seiner Verortung in der Geschichte des Strafverfahrensrechts. Erwähnung finden Mittermaiers Schriften zur Strafgerichtsbarkeit und Strafgesetzgebung, zur Gefängniswissenschaft und Todesstrafe und zu den Geschworenengerichten (S. 9). Hettinger berichtet über die dem Heidelberger Gelehrten zuteil gewordenen zahlreichen akademischen Ehrungen wie etwa die Ehrendoktorwürden der Universitäten Prag, Cambridge (Massachusetts) und Wien oder die Mitgliedschaften von „Akademien in Paris, Lissabon, Pest, Leyden, Washington, Boston sowie belgischer und aller italienischen Akademien“ (S. 6 f.).

Um Mittermaiers Rechtsdenken zu verorten, erläutert Carl-Friedrich Stuckenberg zunächst dessen „philosophischen Standpunkt“ (S. 31). In der Tradition des deutschen Idealismus lehnte er den Utilitarismus von Cesare Beccaria und Jeremy Bentham als „materialistisch“ ab (S. 35). Methodisch verband Mittermaier philosophische und historische (S. 45) mit empirisch-praktischen Ansätzen. Nach seiner Überzeugung war es Aufgabe der (Straf-)Rechtswissenschaft, „dem Gesetzgeber vorzuarbeiten“ (S. 42). Er zeichnete sich durch eine Abneigung gegen übertriebene Abstraktionen, leere System- und Begriffsbildungen aus. Die Erfahrung war für ihn eine wertvollere Erkenntnisquelle als die Deduktion, gegenüber theoretischen Höhenflügen gab er pragmatischen Lösungen den Vorzug (S. 40 ff.). Mittermaier arbeitete auch historisch, aber anders als die Historische Schule der Rechtswissenschaft stellte er nicht die Rechtsgewohnheiten des Volkes in den Mittelpunkt, sondern ging von einem „entelechialen Fortschritt“ (S. 39) aus und blieb insofern auch vernunftrechtlichen Gedanken verpflichtet: Vernünftige Rechtsideen waren immer schon im Recht vorhanden und konnten durch die wissenschaftlich-rationale Arbeit der Jurisprudenz aus der Überlieferung herausgearbeitet werden (S. 45 f.), weshalb diese überhaupt der Gesetzgebung „vorarbeiten“ konnte.

Thomas Weigend beschäftigt sich mit der Methode der Rechtsvergleichung, die von Mittermaier umfänglich angewandt wurde, weshalb er in der Vergleichenden Rechtswissenschaft eine Pionierrolle einnimmt, nicht zuletzt hinsichtlich des Strafprozessrechts (S. 55). Wann immer neue Strafgesetzbücher oder Entwürfe in den Staaten des Deutschen Bundes oder im Ausland erschienen (zum Beispiel in Frankreich, England, Schottland, Italien, USA, Brasilien etc.), landeten sie auf Mittermaiers Schreibtisch, wurden von ihm mit anderen Vorlagen verglichen, eingeordnet und bewertet (S. 57). Weigend merkt allerdings an, dass ein „ausgeprägtes komparatistisches Methodenbewusstsein im heutigen Sinne“ bei Mittermaier (noch) nicht zu finden sei (S. 58).

Heike Jung behandelt Mittermaiers Beweislehre. Auch auf diesem Gebiet leistete er Maßgebliches, zwischen der tradierten gesetzlichen Beweistheorie und dem Prinzip der freien Beweiswürdigung stehend (S. 211). Das Hauptproblem nach dem Ende der gesetzlichen Beweistheorie war die Frage, wie die richterliche Entscheidungsfindung zwischen Überzeugung und Gewissheit, Wahrscheinlichkeit und Zweifel (S. 214) geregelt werden könnte, wobei Mittermaier nicht völlig auf gesetzliche Beweisregeln verzichten wollte (S. 219). Somit bewegte er sich in dieser Frage zwischen der tradierten gesetzlichen Beweistheorie und der modernisierenden Richtung der freien Beweiswürdigung (S. 224 f.).

Jan Zopfs zeichnet Mittermaiers allmähliches, sich über Jahrzehnte erstreckendes Abrücken vom gemeinen deutschen Strafprozess nach. So vergleicht er Mittermaiers frühe Werke zum Strafverfahren aus den 1810er-Jahren mit den späten Schriften seit etwa 1845 (S. 68). Dieser Beitrag verdeutlicht einmal mehr die Bedeutung des Mittermaier‘schen Werkes für die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts, lassen sich an diesem doch die Bemühungen der deutschen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, den tradierten gemeinen Strafprozess zu reformieren, im Detail nachvollziehen. Die größte Herausforderung eines wahrhaft rechtsstaatlichen Strafverfahrens war für Mittermaier, die Rechte des Beschuldigten mit dem staatlichen Strafanspruch in Einklang zu bringen. Am Ende sprach sich Mittermaier für Öffentlichkeit und Mündlichkeit, „Waffengleichheit“ zwischen Anklage und Verteidigung, Anklageprinzip sowie für den Amtsermittlungsgrundsatz (und somit für die Einführung von Staatsanwaltschaften) aus (S. 76–85).

Wie Helmut Frister und Tillmann Horster zeigen, vermied es Mittermaier, entweder das Anklage- oder das Untersuchungsprinzip zu verabsolutieren und in den rechtspolitischen Debatten für eines der beiden eindeutig Partei zu ergreifen. Für ihn war das Strafverfahren hybrid, eine funktionsfähige „Mischform“. Die reine Lehre des Strafverfahrens wollte er nicht aufstellen, weil er wusste, dass eine solche kaum zu finden war (S. 118 f.).

Weitere Beiträge des Bandes gehen auf einzelne Rechtsinstitute und Prozessbeteiligte ein wie Staatsanwaltschaft (Sascha Ziemann), Beschuldigtenrechte (Sven Großmann) und Verteidigung (Wolfgang Wohlers), Sachverständige (Antje Schumann), Geschworenengerichte (Petra Velten) und das Rechtsmittel der Berufung (Arnd Koch). Diese detaillierten Darstellungen zeigen, dass die von Mittermaier behandelten „zeitlosen Themen“ noch für die heutige Prozessrechtswissenschaft und Justizpraxis relevant sind (Schumann, S. 231). In der 1814 erstmal erschienenen „Anleitung zur Verteidigungskunst“ vertrat er Lehren, die „im Grundsatz dem [entsprechen], was auch heute in der Verteidigungsliteratur vertreten und in Weiterbildungsveranstaltungen gelehrt wird“ (Wohlers, S. 171). Nach 1848 forderte er gegen die meisten seiner Kollegen die Zulassung der Berufung als „vollständige neue Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung und den Ausschluss des staatsanwaltlichen Berufungsrechts“ (Koch, S. 293). Mit der Einführung einer staatlichen Anklagebehörde sollte der Missstand beseitigt werden, dass im bisherigen Verfahren der Richter in der Regel zugleich als Ankläger fungierte. Mit einer der Defension gegenüberstehenden Staatsanwaltschaft konnten nach Mittermaier „die auch heute aktuelle Forderung nach Waffengleichheit“ (Ziemann, S. 110) umgesetzt und die Beschuldigtenrechte gestärkt werden. Von den Geschworenengerichten versprach er sich eine „Gemeinwohlorientierung“ der Strafjustiz (Velten, S. 249), die der „zunehmenden Anerkennung dem staatlichen Zugriff absolut entzogener Bereiche bürgerlicher Freiheit“ (Großmann, S. 164) geschuldet war.

Der Band lässt exemplarisch an den einschlägigen Schriften Mittermaiers das hohe Niveau erkennen, das die Strafprozesswissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erreicht hatte. Auf der Ebene der Jurisprudenz war in strafprozessualer Hinsicht die Entwicklung des bürgerlichen Rechtsstaates bereits weit fortgeschritten, wobei die Beiträge die Frage offen lassen, inwieweit diese Fortschritte mit der Justizpraxis Schritt hielten. Festzuhalten bleibt, dass Grundprobleme des Strafverfahrens, für die bis heute keine zufriedenstellenden Lösungen gefunden wurden, bereits im 19. Jahrhundert von Mittermaier diskutiert wurden.

Leider fehlt ein Beitrag zu Mittermaiers Einordnung und Bewertung der wichtigsten europäischen Prozessformen neben dem zu reformierenden deutschen Strafverfahren, des französischen „Code d‘instruction criminelle“ und des englischen Strafprozesses. Da in der preußischen Rheinprovinz das französische Strafverfahren nach 1815 in Kraft blieb, existierte im Deutschen Bund ein Verfahrenstyp, in dem die Hauptforderungen der liberalen Reformer bereits verwirklicht waren: Öffentlichkeit und Mündlichkeit, Staatsanwaltschaft und selbst das in Reformkreisen umstrittene Geschworenengericht. Dennoch blieb Mittermaier gegenüber dem französischen Verfahren auf Distanz, während er zugleich den englischen Verfahrenstypus als Vorbild für den deutschen reformierten Strafprozess ansah. Nicht weniger wichtig als die Verwirklichung liberaler Prozessprinzipien waren Mittermaier ihre detaillierten Ausgestaltungen, die im französischen Verfahren für die Beschuldigten bzw. Angeklagten aus seiner Sicht ungünstig waren. Mit einem scharfen Blick für die Fallstricke des Strafverfahrens analysierte er die praktischen Konsequenzen vermeintlich nebensächlicher Einzelbestimmungen und schaffte hierzu, soweit sie vorlagen und greifbar waren, empirische Materialien herbei.3 Erst eine Darstellung und Analyse seiner vergleichenden Arbeiten über das französische und englische Verfahren und darüber hinaus über sämtliche deutsche und die meisten ausländischen Reformgesetze, die zu Mittermaiers Lebzeiten publiziert wurden, würde vollends die Konturen seiner Konzeption eines reformierten deutschen Strafverfahrens im Wandel der Zeit erkennen lassen.

Anmerkungen:
1 Gustav Radbruch, Gesamtausgabe. Band 6: Feuerbach, Heidelberg 1997, S. 130.
2 Hervorzuheben sind die sorgfältig bearbeiteten, mit informativen Einleitungen und Kommentaren versehenen Briefeditionen, die in der Unterreihe „Juristische Briefwechsel des 19. Jahrhunderts“ der „Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte“ des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (seit 2021 Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie) zwischen 2000 und 2009 erschienen sind.
3 Carl Joseph Anton Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschwornengericht in ihrer Durchführung in den verschiedenen Gesetzgebungen dargestellt und nach den Forderungen des Rechts und der Zweckmäßigkeit mit Rücksicht auf die Erfahrungen der verschiedenen Länder, Stuttgart 1845, S. 41–61.

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